Eine Kurzgeschichte aus dem Leben in einer anderen Zeit
Ein Mensch wie du und ich mit Lebensfreude, Familie, Erfolg und allem, was zu einem geregelten Leben gehört. Glücklich und anerkannt in der Gesellschaft.
Ein Mensch, den keiner mehr versteht und für den keiner Mitgefühl und Verständnis aufbringen kann - ohne Lebenskraft. Ängstlich und einsam, ganz alleine.
Es ist der selbe Mensch - 4 Stunden liegen dazwischen.
In diesen 4 Stunden - ein fremdes weinendes Kind in seinen Armen, dessen Eltern sich trennen wollen.
4 Stunden zwischen zwei Menschen mit einem Körper, Geist und einer Seele - der eine Bekannt mit Namen und der andere ein Unbekannter ohne Namen.
Liebe hilft durch die ersten akuten Stunden und gibt einem die Kraft für die ersten Gespräche mit dem Unbekannten.
Was dann kommt übersteigt im ersten Moment die Vorstellung unseres Verstandes.
Es gibt noch einen zweiten Menschen in dem Menschen den ich liebe, geheiratet und immer so gut gekannt hatte. Seit 26 Jahren. Und keiner kannte den Unbekannten.
Der Unbekannte musste sich 40 Jahre hinter irgendetwas Schrecklichem verstecken, um zu überleben. So wie so mancher Soldat im Krieg im Fussbodenloch unter dem Teppich.
Der Bekannte hat sein Leben so gelebt um keine Schmerzen, Schuldgefühle und Versagensängste zu fühlen. Gefühle wie - doch lieber zu sterben - damit es aufhört - falsch geliebt zu werden und für alles und jeden Schuld empfinden zu müssen. Es allen recht zu machen - gleichzeitig. Jeden Konflikt zu lösen und in Zukunft zu vermeiden, wegen diesen Trennungsängste, für die er sich verantwortlich fühlt. Viele haben ihm gesagt: „Diese Gefühle sind doch normal", was er dann auch noch selbst glaubte. Was hat ihn dann so „gesundkrank" gemacht?
Der Bekannte weiß es immer noch nicht. Stumm wurde sein Unbekannter durch Gewalt und gefühllos durch Missbrauch in die unterste Ecke seiner Seele gedrängt - und das schon von Geburt an die ganze Kindheit. Der Bekannte malt, bastelt und singt nicht mehr, er hat jetzt wertvolles Wissen und Titel. Hat Sprachen, Geschichte und Rechnen mit Anerkennung von Dritten gelernt. Er hat auch gelernt seine eigene Meinung nicht mehr zu sagen -"das tut mir so weh und schließt mich aus der Familie aus".
Keiner, der dieses nicht selbst erlebt oder miterlebt hat, kann es jetzt verstehen. Auch der Bekannte selbst nicht. Er weiß noch nicht, was mit ihm los ist. Innerhalb von 4 Stunden funktioniert der Bekannte nicht mehr - er zittert und starrt entsetzt in eine schreckliche unbekannte Welt in seinem Kopf - für ihn unglaublich, entsetzend, schmerzlich, gewaltvoll, demütigend, erniedrigend - das ist nicht er. Diese grauenvolle Welt bauten doch die Menschen, für die er noch vor 4 Stunden alles, aber auch alles rechtgemacht hatte, um von ihnen „Kinderliebe" zu bekommen - das konnte der Bekannte selbst nicht glauben.
Es ist noch keinem zu erklären, was geschehen ist. Hunderte von falschen Erklärungen, Beschönigungen, Verharmlosung, Fluchtempfehlungen und auch Beschuldigungen der Umwelt machen die unerklärlichen Situationen qualvoll und vernichtend für ihn. Keiner will oder kann die Wahrheit hören oder aushalten - sie ist so unglaublich grausam und schmerzhaft.
Freunde, Glück, Glaube, Zeichen und Liebe retten ihn in der letzen Minute vor der Aufgabe in die Sinnlosigkeit.
Der Unbekannte meldet sich aus seiner Ecke - ich brauche Freiheit zum Atmen. Die Peiniger der Vergangenheit geraten jetzt in Panik, um nicht die Kontrolle zu verlieren und ihre Schuld weiter auf den Unbekannten abzuladen. Er soll mit seiner eigenen Welt in der Ecke der Seele bleiben. Angst vor der Schande, vor dem Verlust des eigenen Ansehen ist es, was die Peiniger jetzt gefühllos aktiviert. Sie kennen sich selbst nicht - leben in einer eigenen Phantasiewelt. Alle, ja alle Verwandten, Behörden, Ärzte, Freunde, Schulen..., werden jetzt zum eigenen Schutze von den Peinigern instrumentalisiert. Es werden dritte Schuldige benannt, Enkel missbraucht, um den Ahnenkult weiter zu betreiben.
Man lernt jetzt von Stunde zu Stunde überleben - auch was im Leben wichtig und unwichtig ist.
Der Bekannte kennt seinen Unbekannten immer noch nicht - die Peiniger beschäftigen ihn und alle in seinem Umfeld mit Ablenkungslügen.
Nach 5 Monaten mit viel Abstand, ist es dann so weit - es wird zur schmerzlichen Wahrheit, was in den 4 Stunden passiert ist.
Der Unbekannte ist soweit aus der Ecke gekommen und hat die Kraft es dem Bekannten zu sagen:
„Du, der Bekannte bist der gequälte Unbekannte, wurdest seelisch und körperlich von deinen Ahnen misshandelt und vom Vater missbraucht".
Es kommen jetzt alle schrecklichen Einzelheiten - Gefühle, Bilder, Geräusche, Gerüche, Umgebungen - alles wie in real und jetzt - so lässt es der Unbekannte dem Bekannten erleben. Er muss es ihm erzählen - mit viel Schmerzen - damit sie wieder eins werden können.
Die Ereignisse der Vergangenheit verschmelzen im Jetzt - Orientierungslosigkeit, Realitätsverlust, Flucht in alle möglichen Suchtmittel, Ersatzbefriedigungen, seelische Selbstverletzung, Aggression gegen sich und andere sind die harten Nebenerscheinungen auf dem Wege zum jetzt gewünschten, eigenen vereinten Ich mit der ganzen Wahrheit über sich.
Nach 8 Monaten können wir einen Geburtstag für einen neuen Erdenbürger feiern. Die Eltern heißen „ Bekannter und Unbekannter".
Einer gefühlten Trennung folgt eine Hochzeit, gebe ich ihm den Namen „Meine neuer Schatz".
Ja, es ist eine schwere Generationskrankheit aus den Kriegen, die als Überlebensstrategie unseren Verstand lang täuschen kann. Der Krieg hat keine Gefühle zugelassen und unsere Unbekannten über Geneartionen in die Seelenecke verdrängt.
Die Peiniger suchen neue Opfer: Menschen, deren Unbekannte noch in der Ecke versteckt auf Befreiung warten.
Oder - und jetzt kommt das Schlimmste: Wieder Kinder, deren Seelen erst liebevoll aufwachsen sollen - die Peiniger können es den hilflosen Kindern nicht gönnen. Der Neid und Angst vor eigenen Gefühlen treibt sie - nicht nur in Familien - nein auch in Heime, Vereine, Schulen... - ja dort, wo Kinder geborgen sein wollen und schutzlos sind.
Sie werden getrieben von der lebenslangen Sehnsucht nach eigener „Kinderliebe", die ihnen der Krieg geraubt hat. Es sind die letzten Kriegsopfer, bis der richtige Mensch, ein Medikament oder der Tod erlösend ihre Zwänge vernichtet. Ihre Eltern sind eine verstorbene Generation - im Krieg oder im Lauf der Zeit. Das lieblose, qualvolle, nicht mehr erfüllbare Kriegserbe bleibt in ihnen für den Rest ihres Lebens. Sie versuchen, den von ihren Ahnen geerbten Schmerz auf hemmungslose und ihnen nicht bewusste Weise weiter zu geben - „es war ja schon immer so" - „wir haben es nur gut gemeint".
Das Geben und Empfangen von Kinderliebe kann nicht aufgeschoben werden - es endet mit der Kindheit.
Ich hoffe für alle, die so eine unerklärliche Geschichte durchleben mussten, dass dieser Text ihnen hilft.
Danke für die vielen „Vater Unser", die immer geholfen haben.
In Liebe zu Kindern und Neuen Schätzen
Copyright 2010 - Eine Kurzgeschichte von Thomas Gehring